Marfan-Syndrom und Auge

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Optometrische Augenglasbestimmung bei Marfan-Syndrom

Anamnese:

Eine 79-jährige Kundin stellt sich für die Refraktionsbestimmung nach erfolgter Katarakt Operation durch die Augenklinik der Universität Freiburg vor. Die Patientin klagt, obwohl sie mit dem Operationsergebnis sehr zufrieden ist, über eine starke Blendungsempfindlichkeit und wechselnde Sehschärfe. Die letzte augenärztliche Untersuchung 5 Tage zuvor ergab eine zentrale Position der Intraokularlinse am rechten Auge und ein alters begründetes Sicca Syndrom. Für das linke Auge stellt der niedergelassene Augenarzt einen Operationstermin in 4 Monaten in Aussicht. Die postoperative Refraktionsbestimmung sowie die Kontaktlinsenanpassung sollen durch den Augenoptiker durchgeführt werden. Unsere Kundin trägt seit circa 35 Jahren Kontaktlinsen. Die bisherigen Linsenparameter sind:

Firma Hecht: AS 6, XO2, blau

                     R. sph+16,0    D 9,6mm   R 8,40mm

                     L. sph +17,0    D 9,6mm   R 8,35mm

Das Lesen wurde mit einer angepassten Lesebrille von +2,5 dpt unterstützt.

Bei genauer Nachfrage bezüglich der veränderten Sehschärfe berichtete die Kundin vom Zwang, ständig blinzeln zu müssen. Durch den Einsatz von Benetzungstropfen ist die Spontanverträglichkeit ihrer Kontaktlinsen deutlich verbessert. Neben dem Sicca Syndrom, waren die hohen Refraktionswerte auffällig. Für diese hohen Werte macht die Kundin ihre Allgemeinerkrankung - Marfan-Syndrom verantwortlich. Die krankheitsbedingten Veränderungen der Augen spürte sie schon seit frühester Kindheit. Das stetige Absinken der Augenlinsen (Subluxation), führte dann auch zur Diagnose. Die beeindruckenste anatomische Auswirkung des Marfan-Syndroms zeigte sich in der Zunahme der Schuhgröße von 42 auf 45, inden letzten 9 Jahren. Dies ist auf eine flachere Fußgewölbearchitektur zurückzuführen. Einlagen und Maßschuhe helfen der Patientin bei einem sicheren Gang. Des Weiteren sind es die Herzklappen und die Lendenwirbelsäule, die der älteren Dame Sorgen bereiten. Für ihr Herz nimmt sie das Medikament ASS und das trockene Auge lindert sie mit Tränenersatzmitteln. Gegen die anderen Veränderungen im Alter treibt sie Sport. Dabei berichtet die Kundin stolz über große Erfolge im Bodenturnen trotz ihrer Erkrankung. „Der Sport hat mir immer geholfen“.

Befund:

Bei der optometrischen Untersuchung konnte eine periphere superiore Gesichtsfeldeinschränkung, verursacht durch eine Ptosis, nachgewiesen werden. Eine starke Subluxation der linken Augenlinse bewirkt im optischen System eine Aphakie. Alle weiteren Ergebnisse sind nachfolgend aufgeführt:

 IOD (9.45 Uhr)                                    OD  15/ 14,5 / 15   OS  15,5 / 15 / 15,5  (in mm/Hg)

Ophthalmoskopie:

C / D Ratio:                                       OD  0,35               OS  0,4

A / V :                                                OD  0,7                  OS  0,6

Spaltlampenbefund:

Kammerwinkel nach van Herrick:     OD 3                    OS  3

Linsentrübung:                                   OD  IOL              OS  immatur

Linsenposition                                    OD  zentral           OS subluxation (Ectopia lentis)

Grad der Ptosis:                                  OD -3mm            OS  -1,5mm

Arcus senilis

Subjektive Refraktion:

F - R. sph -3,75 cyl +1,25 A168° Vcc  0,7  

     L. sph +17,00 (Kontaktlinse)   Vcc 0,8

     Führungsauge:                        OS        

     Covertest:                               OS - kleine Bewegung von unten

     Stereopsis:                              2,0`

N - Add.2,75  bds.                        Vcc OD  0,6        Vcc OS  0,7  

     Pupillenreaktionstest:             normal

     Amslergitter:                           ohne Auffälligkeit -bds.

Kontrastsensibilität: OD über der Altersnorm - OS in der Altersnorm

Motilität:                     ohne Auffälligkeit

Perimetrie:                 Gesichtsfeldeinschränkungsuperior – siehe Ptosis

Tränenfilm:                    instabil

Lidschlagfrequenz:  3 / min

Bild 1: Patientin mit Marfan-Syndrom

 Diagnose:

Die Patientin leidet am Marfan-Syndrom. Die äußeren Kennzeichen sind die überlangen Gliedmaßen, der schmale Körperbau und die überdehnbaren Gelenke. Als Erstsymptom trat eine veränderte Sehstärke auf Grund einer Linsensubluxation auf, die schon früh eine Art „Aphakie“ erzeugte. Die Augenlinse war dabei innerhalb der Pupillenöffnung nach unten verlagert. In der Familie gibt es keine weiteren Erkrankungsfälle. Die Diagnose wurde im 4. Lebensjahr gestellt.

Behandlung:

Im Hinblick auf die demnächst anstehende Katarakt Operation für das linke Auge, passten wir Gleitsichtgläser mit einem Übergangsdesign an.

R. sph-3,75cyl+1,25 A168° Add. 2,75

L. sph  0,0                             Add. 2,75    (Korrektion über die Kontaktlinse mit+17,00dpt)

Die Kontrastverminderung auf Grund der Katarakt, konnten wir mit Blendschutzlinsen verbessern. Vorteilhaft wirkte sich dabei die schwache Verlaufstönung aus. Die Gesichtsfeldeinschränkung durch die beidseitige Ptosis stellt für die Kundin keinen großen Leidensdruck dar. Somit wurde hier auf  die Anpassung von Anti-Ptosis Stützenverzichtet. Hervorzuheben ist die langjährige Versorgung mit Kontaktlinsen. Mit dem ersten Erscheinen der „Haftschalen“ auf dem Markt, wechselte sie sofort von den dicken Brillenlinsen hin zu den Kontaktlinsen. Durch die gute Linsenposition konntebei der Kontaktlinsenanpassung auf einen Minustragrand verzichtet werden. Die Brillenkorrektion rückte damit in den Hintergrund und wird nur bei allergischen Reaktionen (Heuschnupfen) im Frühjahr getragen. Gegen die ungünstige Tränenfilmzusammensetzung zeigten wir 3 weitere Möglichkeiten zur Linderung:

  1. die Anwendung eines lipidhaltigen Augenspray, welches auf die geschlossenen Lider gesprüht wird
  2. die Wärmebehandlung mit feuchten Läppchen am Abend
  3. das Dampfbad mit der Pflanze Augentrost

 

Bild 2: ectopia lentis - Beispielbild

Diskussion:

Bei dem Marfan-Syndrom handelt es sich um eine genetisch bedingte Erkrankung des Bindegewebes. Männer und Frauen sind gleich häufig betroffen; die ethnische Zugehörigkeit ist vernachlässigbar. Der Erbgang ist autosomal dominant. Das bedeutet: die Wahrscheinlichkeit, die Erkrankung an seine Nachkommen zu vererben, beträgt 50%. In 25-30% tritt das Marfan-Syndrom als Spontanmutation auf. Grund für die Krankheit ist das veränderte Gen für Fibrillin, welches eine wesentliche Komponente der Mikrofibrillen ist. Diese Mikrofibrillen bilden das Gerüst für die elastischen Fasern im menschlichen Körper und sind fast überall zu finden. Die Veränderungen im Bindegewebe werden daher in verschiedenen Organsystemen deutlich. Am Skelett sind die häufigsten Probleme eine Fehlstellung der Wirbelsäule (Skoliose/ Kyphose) und eine Verformung des Brustbeins. Die Auswirkungen am Skelett können auch zu Beeinträchtigungen anderer Organe wie z.B. Herz und Lunge führen. Am Auge kann es durch Verschiebung oder Abreißen der Linse, Linsentrübungen oder Netzhautablösungen zu schweren Sehstörungen bis zur völligen Erblindung kommen. In der Lunge sind Blasenbildungen möglich. Diese können platzen und so ein Zusammenfallen der Lungenflügel (Pneumothorax) bewirken, was zu einer lebensbedrohlichen Atemnot führt.Die größten Gefahren liegen im Bereich des Herz-, Kreislaufsystems. In der Gefäßwand der Aorta (Hauptschlagader) sind Aneurysmen- und Rissbildungenmöglich, was zum Platzen des Gefäßes führen kann. Veränderungen an den Herzklappen sind Grundlage für weitere Komplikationen, wie z.B.Herzinsuffizienz oder Endokarditis. Durch den Einfluss des Marfan-Syndroms aufverschieden Organsysteme ist die Behandlung durch ein disziplinübergreifendes Ärzteteam notwendig. Im Bereich der Orthopädie kann durch eine rechtzeitige Behandlung die Skelett- und Gelenkschädigung verhindert oder hinausgezögert werden. Gezielte sportliche Übungen, Einlagenversorgung, Korsettbehandlung oder Operationen sind hier die Möglichkeiten vermeidbaren Komplikationen entgegenzuwirken. Umsichtiges Verhalten von Patienten, Arzt und persönliches Umfeld, kann Menschen mit dem Marfan-Syndrom eine normale Lebenserwartung unddabei eine akzeptable Lebensqualität sichern. Die Auswirkung auf das Sehen ist darin begründet, dass Fibrillin Bestandteil der Zonulafasern ist. Die Zonulafasern sind durch den Fibrillinmangel stark verändert. Da bei der Fernakkommodation eine Abflachungder Linse nicht mehr richtig möglich ist, sind die Betroffenen meist myop. Das Hauptkriterium für die Diagnose Marfan-Syndrom ist die Linsenluxation. Weitere Befunde, die im Rahmen eines Marfan-Syndroms häufiger auftreten sind die frühzeitige Entwicklung einer Linsentrübung, Glaukom, eine Netzhautablösung undeine kugelige, starre Augenlinse.            

Bild 3: Spinnenfingrigkeit
Bild 4: besondere Fußarchitektur (Senk-, Spreizfuss)

Fazit:

Die Auseinandersetzung mit dem Marfan-Syndrom ist für Betroffene, Eltern von erkrankten Kindern und anderen Angehörigen nicht einfach und führt immer wieder zu Unsicherheiten und Ängsten. Die Erkrankung und ihre Auswirkungen sind in der Bevölkerung weitestgehend unbekannt. Der Verein Marfan Hilfe bietet die Möglichkeit, diese Dinge anzusprechen, zu diskutieren, Erfahrungen auszutauschen und Informationen bei spezialisierten Ärzten einzuholen.  

Autor:

Randy Freitag

– GermanEyeCare –

Hoffmannoptik e.K. – Augenoptisches Kompetenzzentrum im Markgräflerland

EurOptom, Augenoptiker-Meister, Heilpraktiker

veröffentlicht: Deutsche Optikerzeitung - 1/2013