Diplopie aufgrund einer neurologischen Ursache

„ocular tilt reaction“ durch einen Hirnstammtumor (Medulloblastom)

Verdachtsdiagnose – Diplopie aufgrund einer neurologischen Ursache

Einleitung:

Eine Verdachtsdiagnose ergibt sich aus einem phathologischem Systemkomplex.Erkenntnistheoretisch handelt es sich dabei um einen Verdacht, wie er sich ausd er momentanen Erfahrung ergibt. Wenn sich die Erfahrung ändert, dann sollte sich auch die Vorstellung in Bezug auf die zu Grunde liegend gedachte Ursache der klinischen Erscheinung ändern.

Anamnese:

Eine Familie stellt sich mit ihrem 7-jährigen Kind wegen einer Kopfschiefhaltung und Doppelsehen vor. Die Kopfneigung zur rechten Schulter besteht seit kurzer Zeitund war vorerst als harmlose Verspannung in der Halsmuskulatur gedeutet worden. Erst nach dem Hinzutreten von Doppelbildern und Kopfschmerzen erfolgte eine optometrische Abklärung. Nach genauer Nachfrage konnten epileptische Anfälle, psychische Veränderungen oder Sprachstörungen nicht berichtet werden. Auch musste sich das Kind nicht erbrechen.

Visuelles System

- bisher keine Brillenglaskorrektur

- keine Augenerkrankung oder Verletzungen

- bisher kein Strabismus

- bisher keine asthenopischen Beschwerden

Allgemeine Gesundheit

- keine Vorerkrankungen

Medikamente                  

- bisher waren keine Medikamente notwendig

Familienanamnese

- keine relevanten Erkrankungen

Soziales Umfeld

- Schulbesuch mit großer Freude, Sportverein - Fußball

OptometrischeMessungen:

Visus  sc

- rechtes Auge (OD): 0,8

- linkes Auge   (OS): 0,8

Binokularstatus (Maddox)

- 8 Prismendioptrien Basis oben: OD - Verkippung der horizontalen Linie

- OD: circa 8°  Exzykloduktion

- OS: circa 10° Inzykloduktion

Pupillenreaktionstest

- beide Augen (OU): 6 mm bei Dunkelheit, 3 mm in Helligkeit

- kein relativer afferenter Pupillendefekt (RAPD)- (Swinging-Flashlight-Test)

Augeninnendruck (IOP) 9.30Uhr

- OD: 11 mm/Hg - OS: 12 mm/Hg

Konfrontationsgesichtsfeld - vollständig, ohne Ausfälle: OU

Spaltlampenbefund

- Augenlider / Adnexe:         normal            OU

- Bindehaut und Lederhaut:  klar / reizfrei: OU

- Hornhaut:                           klar                 OU

- Iris:                                     normal            OU

- Augenlinse:                        klar                 OU

- Kammerwinkel:                 OD:   37° OS:   33°

- Pachymetrie(nm):              OD: 555  OS: 559

- Vorderkammertiefe(mm): OD: 2,79  OS: 2,71

Abb.1: rechtes Auge - Vorderkammer – Wave analyzer
Abb.2: linkes Auge - Vorderkammer – Wave Analyzer

Augenhintergrund (Abb. 3/4)

- Exzycloduktion OD, Inzykloduktion OS

- Glaskörper:            normal OU

- Papille:                   normal OU

- Cup to Disc Ratio: 0.2 OU

- Makula:                normal OU

- Gefäße:                  normal OU

- Peripherie:             normal OU

Abb.3: rechtes Auge - Exzykloduktion
Abb.4: linkes Auge - Inzykloduktion

Diagnose:

Wir fanden eine Kopfneigung zur rechten Schulter, eine Rechts- unter links Schielstellung, sowie eine Rechtsverrollung beider Bulbi. Das Kind gab eine Verkippung der subjektiven Vertikalen nach rechts an. Durch Okklusion desr echten oder linken Auges konnte die Kopfneigung nicht aufgehoben werden. Bei der ophthalmoskopischen Beobachtung war keine Stauungspapille, aber eine veränderte Beziehung zwischen Makula und Papille zu erkennen (Verrollung). Aufgrund dieser klassischen Zeichen musste ein raumfordernder Prozess durch eine neuroophthalmologische Untersuchung ausgeschlossen werden. Die Diagnose der Klinik vor Ort lautete: „ocular tilt reaction“ aufgrund eines Hirnstammtumor. Entsprechend zeigte sich ein Medulloblastom im unteren Hirnstamm auf der rechten Seite (6).  Bei einem Tumor im oberen Hirnstamm wäre eine gekreuzte Symptomatik, also eine „oculartilt reaction“ nach links zu erwarten gewesen.

Behandlung:

Das Kind wurde einer mehrfachen Bestrahlung und Chemotherapie unterzogen. Nach Abschluss der Therapie hat sich der Befund wesentlich verbessert.

Diskussion:

Hirntumoren bei Kindern sind nach der akuten Leukämie die zweithäufigste, bösartige Erkrankung. Das Medulloblastom (von den Nervenzellen ausgehender Hirntumor) tritt bei Kindern in der ersten Lebensdekade gehäuft auf. Es kann sich in Kopfschmerzen, Nackensteifigkeit, Verhaltensveränderung und vegetative Störungen wie Atem- oder Blutdruckveränderungen zeigen. Ein besonderer Hinweis ist das plötzliche, explosionsartige Erbrechen, vor allem bei schnellen Kopfbewegungen (zentrales Erbrechen).(3)

Die „ocular tilt reaction“ oder auch Hertwig-Magendie-Syndrom bezeichnet eine Störung der Blickmotorik mit Achsabweichung und Zyklorotation des Augapfels.(1) Als klinisches Zeichen dieser zentral-vestibulären Tonusdifferenz in der Roll-Ebene,

zeigt sich in den folgenden vier Komponenten: Kopfneigung, Abweichung der subjektiven visuellen Vertikalen als sensitivstes Zeichen, Skewdeviation (pränukleäre vertikale Schielstellung) und Zykloduktion( gleichsinnige Bulbusverrollung).(2)

Oft liegt eine beidseitige, gleichsinnige Verrollung vor. Dabei ist oft das tiefer stehende Auge nach innen und das höherstehende Auge nach außen verrollt. Die Abweichung der beiden Augen in der Vertikalebene kann in allen Blickrichtungen gleich (konkomitant),aber auch ungleich (inkomitant) sein. Deshalb handelt es sich nicht um ein Lähmungsschielen. Es treten Doppelbilder rauf, die vertikal versetzt, aber auch verkippt sein können. Der Kunde hält seinen Kopf zur Schulter geneigt.(5) Die ocular tilt reaction stellt ein häufiges Symptom bei Hirnstammläsionen dar und ist in der Regel mit weiteren zentralen Okulomotorikstörungen kombiniert.(2) In seltenen Fällen tritt diese Symptomatik auch bei einer Schädigung des gleichseitigen Vestibularorgans (Labyrinth) auf, das bei der Regulierung der Körperhaltung eine führende Rolle spielt.(1)

Die „ocular tilt reaction“ ist durch Unterbrechung von supranucleären Bahnen zu erklären, die vom Otolithenapparat ausgehen, also von dem auf Linearbeschleunigung ansprechenden Teil des Gleichgewichtsorgans. In unserem Fall sind die Bahnen betroffen, welche den rechten M. rectus superiorund den linken M. obliquus inferior aktivieren sollten. Die Kopfneigung erklärt sich daher, dass die Otolithenimpulse bestimmte Halsmuskeln nicht erreichen, und die Verkippung der subjektiven Vertikalen beruht darauf, dass dieProjektion zur vestibulären Hirnrinde gestört ist.5 Die subjektive Vertikale korreliert nichtimmer streng mit der Augentorsion. So gibt es bei akuten Läsionen zentraler Otolithen-Projektionen im Hirnstamm plötzliches illusionäres Verkehrt- oder Schrägsehen (45–90°), obwohl die Augenanatomie nicht mehr als etwa 25°Verrollen zulässt.(4)

Fazit:

Die Kopfneigung zur Schulter ist bei der ocular tilt reaction kein Kompensationsmechanismus zur Vermeidung von Doppelbildern, wie bei der Trochlearisparese, sondern ein Ausfallssymptom. Entsprechend bleibt die Kopfneigung bei Okklusion des rechten oder linken Auges bestehen.

Durch die enge Zusammenarbeit mit den behandelnden Ärzten, entstand für den jungen Kunden und dessen Eltern, ein multiprofessionelles, interdisziplinäres Team. Unsere Ergebnisse der optometrischen Kontrolle berichteten wir in einer Fallkonferenz.

Literatur

1. Hanser,Hartwig, Lexikon der Neurowissenschaft, SpektrumAkademischer Verlag, 2005

2. Klinisches Monatsblatt Augenheilkunde 2007; 224 - KV47

3. Kanski: Klinische Ophthalmologie, Urban & FischerVerlag, 6. Auflage, 2008

4. D.Straumann, R. M. Müri und K. Hess; Neurootologieund Neuroophthalmologie, Vertigocenter, Zürich

5.Wikipedia

6. Patientenunterlagen

Bildquellen: Randy Freitag

Autor:

Randy Freitag

– GermanEyeCare –

Hoffmannoptik e.K. – Augenoptisches Kompetenzzentrum im Markgräflerland

EurOptom, Augenoptiker-Meister, Heilpraktiker

veröffentlicht: Deutsche Optikerzeitung - 5/2016